Nur eine Schneeflocke

(2016; Quartierzeitung Sternmatt)

Nur eine Schneeflocke

Bei der Haltestelle vor dem Restaurant Sternegg hält ein Bus, die Menschen strömen hinaus, ich sehe ihnen zu, wie sie in alle Richtungen davoneilen. Eine Nachbarin kommt auf mich zu, und wir beginnen zu reden. Nach kurzer Zeit sagt sie: «Manchmal denke ich, es müsste doch irgendetwas geben, was allen Menschen hilft! Ich kenne so viele, die Probleme haben und irgendwie Hilfe suchen!»

Das sehe ich genau gleich. Und tatsächlich gibt es etwas, was allen Menschen helfen kann. Bestimmt haben Sie schon oft davon gehört, Jesus hat darüber gesprochen, auch die christlichen Mystiker und Buddha sowieso: das Gegenwärtigsein, so radikal, wie es nur geht.

Ich möchte Sie einfach nur daran erinnern, weil ich finde, man kann es gar nicht zu oft hören. Besonders wenn Sie das Gefühl haben, in einer schwierigen oder traurigen Lage zu sein.

So viel Druck fällt ab, wenn klar ist, dass Sie niemals eine ganze Lebenssituation aufs Mal bewältigen müssen, sondern immer nur den jetzigen Moment erfahren – eine Schneeflocke anstelle einer ganzen Lawine.

Durch die vielen Angstzustände, die ich bisher erlebt habe, weiss ich, dass mich nur das Sein im Jetzt in die Ruhe bringt. Und umgekehrt, dass die grösste Panik dann passiert, wenn die Realität gerade vollkommen überdeckt ist mit schlimmen Erinnerungen und Vorstellungen (bis hin zur fixen Idee, nächstens durchzudrehen oder ohnmächtig zu werden). Ob in Ihrem Leben vieles da ist, was Sie beschäftigt, oder ein gesundheitliches Problem oder eine psychische Krankheit – es gibt nichts Belastenderes als all die gedanklichen Zukunftsreisen, die einem einreden, wie überfordert man wäre und wie schlimm man es fände, falls dies oder jenes geschähe. Doch positive Vorstellungen oder das Schwelgen in schönen Erinnerungen tragen einen auch nicht nachhaltig. Wenn sie eine Flucht sind aus dem als leidvoll empfundenen Jetzt, verdecken sie die natürliche Lebendigkeit des Moments. Ist denn das, was jetzt ist, nur gerade jetzt, wirklich so schlimm?

Ich rede hier nicht von einer spirituellen Idee oder einem Lebenshilfe-Trick, sondern von einer offensichtlichen Tatsache: Leben findet immer nur jetzt statt. Das Jetzt ist das Einzige, was Sie haben und was wirklich ist.

Jetzt-Sein müssen Sie nicht «machen»; es ist eher ein Lassen, ein Lassen des unaufhörlichen Denkens. Und wenn Sie in eine Handlung vertieft sind, sind Sie ja oft ganz von selbst im Jetzt.

Manchmal erscheint es unmöglich, gegenwärtig zu sein, zu viele Gedanken kreisen im Kopf. Dann lässt man das am besten geschehen, kämpft nicht dagegen an und nimmt den Körper wahr. Sie können sowieso nie wirklich «aus dem Jetzt fallen». Es ist nur die Frage, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist – entweder auf den Gedankenstrom oder darauf, was gegenwärtig da ist. Nicht im Jetzt zu sein, bedeutet eigentlich, in Gedanken verstrickt zu sein. Und die Gedanken sind nicht das wahre Leben.

In Wirklichkeit ist das Jetzt gar nichts Zeitliches. Oder wie lange würde es denn dauern? Die Gegenwart ist zeitlos. Zeit existiert nur, wenn Sie sich an Formen orientieren: Der Apfel war früher knackig und grün, jetzt liegt er schrumpelig und bräunlich da. Oder der Bus fährt um 14 Uhr ab. Die Einteilung in Stunden und Minuten ist für den praktischen Alltag nötig und sinnvoll. Doch wahrhaftig ist nur, was jetzt ist.

Statt von Jetzt-Sein kann man auch davon sprechen, zu sehen, was da ist. Sie nehmen sicher gerade etwas wahr, ein Geräusch, den Boden unter den Füssen, einen Schmerz im Körper, vorüberziehende Gedanken. Das klingt, als spräche ich von einzelnen, getrennten Jetzt-Elementen. Doch wenn man still wahrnimmt, ohne das Wahrgenommene abzulehnen oder zu begrüssen, verschmilzt alles zu einem Ganzen. Für religiöse Menschen ist wohl das Einssein mit Gott das, was ich als Einssein mit dem Jetzt bezeichne. Sie erfahren Gott besonders in der Stille, im Gegenwärtigsein.

Wenn man innerlich widerstandslos den Moment lässt, wie er ist, dann ist das Jetzt als etwas Stilles, Friedvolles erlebbar, selbst wenn rundherum Lärm herrscht. In dieser Stille verschwinden alle Probleme. Auch Gedanken können diese Ruhe nicht wirklich stören.

Die schönen Gärten und einladenden Bänke in unserem Quartier bieten sich doch geradezu an, um innezuhalten und einfach zu sein.