Rezension von Prof. Dr. Sven Barnow, Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Heidelberg:
Das Buch «Tasten auf dünnem Eis» von Karin Linsi ist allen zu empfehlen, die nicht nur an Fakten und Studien zu Essstörungen und sozialer Phobie interessiert sind, sondern auch etwas tiefer in die Materie einsteigen wollen. Es beschreibt schonungslos offen die „heimlichen Gedanken“ von Mara, einer Patientin mit Anorexie, zwanghaften Tendenzen und sozialen Ängsten. Der harte Weg in die stationäre Behandlung, der noch härtere der Ablösung und die damit verbundenen Ängste.
Therapeutische Dialoge werden sehr plastisch beschrieben, man ist quasi mittendrin, bewegt, ängstlich, wütend je nachdem. Als Psychotherapeut und Wissenschaftler hat mich vor allem die Frage nach dem Lesen beschäftigt: Verstehen wir die Patienten ausreichend? Wie sinnvoll sind stationäre Behandlungen, die nur einmalig erfolgen? Das Buch von Karin Linsi gibt keine Antworten darauf, aber irgendwie ist man nach dem Lesen etwas nachdenklicher. Ein wirklich gelungenes Buch, das ich nur jedem empfehlen kann, der mit Essgestörten arbeitet oder selbst betroffen ist bzw. sich für die Problematik interessiert.
Rezension von Marco Todesco, Vorstand APhS (Angst- und Panikhilfe Schweiz)
Mara ist 30 Jahre alt, ausgebildete Pianistin und Korrektorin. Sehr intelligent und extrem perfektionistisch. Sie ist eine sehr sensible Persönlichkeit und ausgesprochen mitfühlend, v.a. gegenüber Tieren, weshalb Mara letztlich auch Vegetarierin ist. Sie fühlt sich machtlos gegenüber dem Unrecht auf der Welt und hat Schuldgefühle.
Der Roman «Tasten auf dünnem Eis» von Karin Linsi beschreibt den dreimonatigen, freiwilligen Klinikaufenthalt von Mara mit Rückblenden in ihre Kindheit und die Jugendjahre.
Im eindrücklich geschilderten Klinikalltag wird sie durch die Therapien und Essgruppen ständig mit ihren Ängsten konfrontiert, was sie sehr belastet, schließlich aber auch zu gewissen Einsichten bringt. Sie erlebt verschiedene Therapieformen wie Gruppensitzung, Einzelsitzungen, Familienstellen, Autogenes Training und Physiotherapie.
Mara leidet an einer Generalisierten Angststörung mit Panikanfällen. Dies macht sich v.a. bei Konzertauftritten bemerkbar, weshalb sie schließlich die Pianistenkarriere sausen lässt. Sie entwickelt daraufhin eine Soziale Phobie mit depressiven Schüben, die in einer Magersucht endet. Sie isoliert sich zunehmend und gerät in einen Teufelskreis; sie kündigt ihre Arbeit, verliert ihren Freund und die meisten sozialen Kontakte.
Maras Kindheit könnte als typisch für magersüchtige Frauen gelten: Ein dominanter, strenger Vater, dem nichts gut genug ist für seine Anerkennung, eine etwas überforderte Mutter, ein schlägelnder Bruder, der letztlich neidisch auf Maras Begabungen ist. Mara selbst strebt nach Anerkennung, traut sich aber nicht, sich durchzusetzen und ihre Meinung kundzutun, sondern ist immer lieb und nett und angepasst, in der Hoffnung, endlich einmal beachtet zu werden.
Mara hat krankheitsmäßig «ein bisschen von allem», Ängste, Depressionen, Essstörungen. Dadurch werden die Vernetzung und die fließenden Übergänge der verschiedenen Krankheiten eindrücklich aufgezeigt. Es gibt keine eindeutig abgrenzbaren Krankheitsbilder. Die Therapien sind sehr authentisch beschrieben. Die Gedanken und Tagebucheinträge von Mara zeigen auch das Auf und Ab, die innere Zerrissenheit, die Problematik des Ganzen. Sonst Unbeteiligte können die ganze komplizierte Welt von Menschen wie Mara nachvollziehen und verstehen. Das Buch lässt auch erahnen, wie schwierig eine Therapie ist. Es endet mit dem Klinikaustritt, der weitere Verlauf bleibt offen.
Fazit:
Eine sehr empfehlenswerte Lektüre einerseits für Angehörige; für ein besseres Verständnis der Krankheitsproblematik, der Vielschichtigkeit und der schwierigen Therapie, andererseits aber auch für Betroffene selbst; um sich stellenweise wiederzuerkennen, um Anregungen und Lösungsansätze zu finden und auch, um sich mit einer Psychotherapie vertraut zu machen. Das Buch ist auch sehr empfehlenswert für Fachpersonal; für Anregungen und zur Hinterfragung von Therapien.
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Fazit einer Angehörigen eines Betroffenen:
Mara durchlebt gewisse Situationen so ganz anders, als ich es tun würde; und sie reagiert auch ganz anders, als ich es tun würde. Das lässt mich die komplizierte Gedankenwelt eines Angst/Depression-Betroffenen nachempfinden. In anderen Bereichen kann ich mich selbst wiedererkennen und denke: «So ist es mir doch auch schon ergangen!» Das macht es leicht, mich mit der Romanfigur Mara zu identifizieren, und ihre Probleme nachzuempfinden.
Silvia
Rezension von Astrid Krüger (www.astrid-krueger-medizin.de)
Mara leidet schon als Kind an hochgradiger Nervosität und Lampenfieber, vor jeder Art von öffentlichem Auftritt – sei es in der Schule beim Vorlesen oder später bei einem öffentlichen Vorspielen am Klavier. Damals bereits sind es die Vorstufen von Panikattacken und Angstzuständen, begleitet von Schlaflosigkeit, die Mara quälen, sobald ein solcher Termin auch nur in den Bereich des Möglichen gerät.
Doch leider verstehen die Erwachsenen um sie herum ihre Hilferufe nicht, so dass Mara, hochsensibel auch in anderen Bereichen, allein gelassen mit ihren Ängsten und Befürchtungen lebt, so lange, bis diese sich zu ausgeprägten Panikattacken entwickeln, begleitet von Depressionen und einer immer bedenklich werdenden Essstörung.
Aus diesem Grunde ist es Mara auch nicht möglich, in ihrem ausgebildeten Beruf als Pianistin zu arbeiten, so dass sie einen weiteren ergreift, den der Korrektorin. Doch irgendwann scheitert sie auch hier, und nicht nur das, darüber hinaus verliert sie auch die Beziehung zu ihrem Freund.
Das ist der Punkt, an dem Mara eine Klinik aufsucht und den Willen bekundet, dort in der Zeit von drei Monaten aus dem tiefen Tal ihrer gequälten Seele aufzustehen und in ein lebenswertes Leben zurückzufinden. Doch der Weg ist hart, die Therapie voller schmerzlicher Eindrücke, die Mara manches Mal verzweifeln lassen und den Gedanken nahe legen den Aufenthalt abzubrechen und in ihr einsames Leben zurückzukehren.
Sie hält jedoch durch, lässt langsam, aber sicher Nähe zu und sucht bewusst den Kontakt zu ihren Mitpatienten und -patientinnen, die selbst diesen schweren Gang zu gehen haben. Zum Schluss ist Mara am Ende ihres Aufenthaltes angelangt, hat vieles gelernt und umsetzen können, doch noch steht ihr der Rückkehr in den Alltag bevor, und es bleibt offen, wie sie den meistern wird.
Der Roman „Tasten auf dünnem Eis“ von Karin Linsi beschreibt den dreimonatigen Aufenthalt von Mara in der Klinik Dornhof mit vielen Rückblenden in die Kindheit und Jugend, in der die Entstehung ihrer heutigen Erkrankung verwurzelt ist.
Wir sehen die Verzweiflung der kleinen Mara, hochsensibel und perfektionisch und, wie sie glaubt, dem Alltag nicht gewachsen, so sehr, dass ihr das Leben immer mehr entgleitet und den Weg freimacht für Ängste, Depressionen und Essstörungen.
Und wir sehen die erwachsene Mara in der Klinik, bei ihren Therapien, im Umgang mit den anderen. Wir erleben, wie sie wieder Mut fasst und sich ihr Schicksal langsam, aber sicher zum Guten wendet.
Fazit: Ein Buch nicht nur für Betroffene, sondern auch für deren Angehörige und Therapeuten geeignet, die in einer unglaublichen Intensität erfahren wollen, wie Patienten mit Angst-, Essstörungen und Depressionen denken, sich fühlen und handeln. Es ruft auf zu mehr Verständnis untereinander und weist darauf hin, schon kleinste Anzeichen in Jugend und Kindheit zu beachten, so dass solch ernstzunehmende Störungen, frühzeitig behandelt, erst gar nicht zu solch dramatischen Folgen führen können.