Traumberuf Musikerin?

(für Magazin Punktum, Schweiz. Berufsverband für Angewandte Psychologie SBAP, 2007)

Wenn Lebensträume platzen

Aus dem grossen Saal der Musikhochschule dringt er­neut Applaus in den Raum hinter der Bühne. Mara steht auf, spürt dabei leichten Schwindel, setzt sich im Nebenzimmer ans Klavier, spielt nochmals die ersten Takte ihrer Beethoven­sonate. – So, genau so soll es nachher im Saal auch klingen! Diesem Stück ist sie das einfach schuldig!
Mara greift nach dem Fläschchen in ihrer Hosentasche, schüttet ungezählte homöopathische Globuli in die Hand und versucht an deren Wirksamkeit zu glauben. Dann geht sie nochmals zur Toilette. Als sie zurückkehrt, hört sie ihren Vorgänger bereits die letzte Passage spielen.
«Hey, Mara, du bist ja kreideweiss!»
Carlo betrachtet Mara amüsiert. Er hat bereits vorgespielt und schlendert nun mit einer Zigarette in der Hand und aufgeräumtem Gesicht hinter der Bühne herum.
«Ja?» Mara lacht nervös. «Ich bin einfach unmöglich. Aber jetzt bin ich gleich dran …»

So, wie ich es in meinem autobiografischen Roman «Tasten auf dünnem Eis» beschreibe, habe ich unzählige Male hinter einer Bühne gewartet, gezittert und gelitten – und es doch immer wieder freiwillig getan.
Ich habe Musik studiert, mit Hauptfach Violoncello. Doch mein Diplom liegt seit meinem Studienabschluss ungenutzt in der Schublade. Der Traumberuf Musikerin ist ausgeträumt.
Schon als Mädchen litt ich unter diffusen, belastenden Ängsten, hoffte aber immer, die würden sich dann schon von selbst legen. Ich wollte einfach unbedingt Musikerin werden, mit viel Lob bestätigt und gefördert von meiner Cellolehrerin. Ich liebte mein Cello, mein Klavier, die Musik, und ich fand es faszinierend, mich einem Stück anzunähern und musikalisch sowie technisch an ihm zu feilen. Ich litt aber auch unter enormem Lampenfieber, drückte mich jeweils vor Schülerkonzerten, bis mich meine Lehrerin zwingen musste. Musikerin blieb mein Traumberuf.
Musik an sich ist ja auch etwas Wunderbares. Ich denke, ihren Wert kennt jeder Mensch für sich persönlich. Musik vermag wie keine andere Kunstform ganz unmittelbar zu berühren, Stimmungen zu erzeugen, blockierte Tränen hervorzulocken (oft auf Beerdigungen, wo erst beim Einsetzen der Musik «beherrschte» Menschen überwältigt werden können). Jedes Lebewesen kann von Musik berührt werden, schon Ungeborene und Säuglinge, sogar Pflanzen – Lebewesen, die auf ein Gemälde oder auf Literatur meines Wissens keine Reaktion zei­gen könnten.
Und wahrscheinlich kennt jeder das Gefühl, dass er sich beim Erklingen eines bestimmten Musikstücks sofort an ein berührendes Ereignis erinnert, auch wenn es lange zurückliegt.
Musik kann Stimmungen erzeugen, man kann beim Zuhören die Augen schliessen, eintauchen, den Alltag vergessen. Sie kann aber auch so mitreissen, dass man sich beinahe zwangsläufig be­wegen muss. Zudem ist Musiktherapie für viele Menschen hilfreich, lässt sie vielleicht wieder zu mehr innerer Harmonie finden.
Mein späteres Studium an der Musikhochschule war eine bereichernde Zeit. Die Begabung bestätigte sich durchaus. Und cellistisch glaubte ich hoffnungsvoll und blauäugig an eine spätere Existenz als Kammermusikerin (ein Traum vieler Musikstudenten), mit ein paar ergänzenden Unterrichtsstunden und gelegentlichen Kammerorchestereinsätzen zur finanziellen Sicherheit.
Parallel zu Erfolg und Anerkennung hatte sich aber schleichend meine Angst (Agoraphobie, soziale Phobie, Zwanghaftigkeit) immer tiefer in mir eingegraben. Immer mehr Situationen bereiteten mir Herzklopfen und andere Symptome. In einem Umfeld, in dem es permanent um Auftreten und Exponieren geht, eine eigentlich unerträgliche Situa­tion.
Zudem spürte ich, wie sehr ich mich während des Spiels verspannte, buchstäblich atemlos wurde. Getrieben vom Wunsch, bei der Interpretation eines Werkes dem Komponisten gerecht zu werden und seine Absichten zu verwirklichen, entfernte ich mich von mir selbst, verlor mich gewissermassen in meiner hohen Konzentration.
Trotzdem – meine Diplomprüfung gelang schliesslich erfolgreich und öffnete mir das Tor zur Welt der Berufsmusik. Ein Jahr Auslandstudium hängte ich noch an. Danach war die Gnadenfrist verstrichen, nicht länger konnte ich mir einreden, meine psychische Labilität würde sich schon auswachsen. Es wäre die Zeit gekommen, Arbeit zu suchen. Dort kapitulierte ich.

Mara steht vor einer langen Werkbank mit Stapeln von Schuhkartons und klebt Preisetiketten in Hunderte von Turnschuhen, Stöckelschuhen, Pantoffeln … Aus einem Radio, das seit Jahrzehnten in der Fabrikhalle zu stehen scheint, schallt ein Countrysong.
Das Diplom der Musikhochschule liegt zu Hause in einer Schublade – überflüssig beim Schuhpreiskleben, für die Arbeit als Aufseherin im Kunstmuseum, beim Bestücken von Weihnachtsgeschenkkörben mit Delikatessen. Sobald Mara sich ans Klavier setzt, wird sie traurig. Deshalb lässt sie es bleiben. Klassische Musik hören macht sie auch traurig, deshalb hört sie Jazz oder gar nichts. Die Zukunft liegt in einem Nebel aus Zweifeln, wo sich neue Wurzeln schlagen liessen.

Arbeit als Musiker bedeutet normalerweise entweder Unterrichtstätigkeit oder eine Orchesterstelle. Beide Arten der Berufsausübung schienen mir aber undenkbar: Beim Thema Unterrichten war es die Angst vor dem engen, persönlichen Kontakt mit Schülern und Eltern sowie das subjektive Gefühl des Eingeschlossenseins während der Lektionen. Bei der Variante Orchestermusikerin war die Angst vor dem Eingesperrtsein noch viel ausgeprägter. Während eines Konzertes die Bühne verlassen, wegen akuter Angst? Unvorstellbar und untolerierbar ausserhalb der Pause! Und selbst während Proben «tut man das nicht», daher hatten mir während des Studiums auch diese zunehmend Herzklopfen bereitet. Zudem war ich viel zu wenig nervenstark, um bei Probespielen (Bewerbung für ein Orchester) mit der gnadenlos verlangten Perfektion vorzuspielen, innerhalb von vielleicht nur drei Minuten auf Knopfdruck und ohne zitternde Finger mich zu beweisen und mein musikalisches Potenzial auszubreiten.
Dass ich nun meinen jahrelang vorgezeichneten Berufsweg verlassen musste, löste eine ziemlich tiefe Krise und Sinnsuche aus.
Wenn ich heute sehe, was ein Dasein als Cellistin bedeutet hätte, sehe ich den Abbruch allerdings auch positiv.
Die Konzertbesucher verklären oft das Leben eines Berufsmusikers. Beneidenswert, sich mit etwas so Schönem wie Musik den Lebensunterhalt verdienen zu dürfen …!
Das Publikum weiss nicht, dass sich beispielsweise auf eine einzige Streicher-Orchesterstelle oft weit über hundert bis mehrere hundert Musiker bewerben und dass Probespiele der reinste Nervenstress sind. Überhaupt besteht eine Diskrepanz zwischen der allgemein verbreiteten Vorstellung, Musiker seien besonders sensibel, und der Tatsache, dass gerade diese Künstlergruppe über eine ausgesprochen hohe psychische Belastbarkeit verfügen muss. Obwohl natürlich Sensibilität für eine einfühlsame, inspirierte Interpretation wiederum tatsächlich notwendig ist bzw. wäre.
Hat man also die Orchesterstelle bekommen, beginnt die Härte des Alltags.
Die Arbeit geschieht immer im Angesicht einer kritischen Öffentlichkeit, die verwöhnt ist von instrumenten- und aufnahmetechnisch «makellosen» CD-Aufnah­men und daher ganz selbstverständlich Höchstleistung verlangt.
Ungünstige Dienstzeiten – morgens Probe und abends Vorstellungen – kommen hin­zu, wobei im Fall einer abendfüllenden Opernaufführung nach dem letzten Applaus nur wenige Stunden Ruhezeit bleiben (die Nacht …) bis zur täglichen morgendlichen Probe.
Tourneen sind zusätzlich anstrengend, mit oft dichtem Konzertprogramm und wenig Rücksicht auf Zeitverschiebung etc.
Dazu kommt, dass durch die hohen Anforderungen an Orchestermusiker heute jene Musiker im Orchester sitzen, die von der Begabung und vom Ehrgeiz her eigentlich eine Solo- oder eine Kammermusikerkarriere angestrebt hatten. Bei dieser persönlichen Qualifikation kann es besonders frustrierend wirken, im Orchester einer unter vielen zu sein, mit dem eigenen Ton sozusagen im Klangmeer unterzugehen. Oder allenfalls unter einer uninspirierten, unfähigen Orchesterleitung spielen zu müssen.
Musik ist ein Markt geworden, Plattenfirmen (Labels) kreieren Stars ungefähr so, wie neue Produkte lanciert werden, und bestimmen weitgehend, ob klassische Musiker und Ensembles international berühmt werden, denn ohne Label ist das schier unmöglich.
Alkohol- oder Tablettensucht sind unter (Orchester-)Musikern auffallend weit verbreitet. Sehr viele Berufsmusiker haben zudem instrumentenspezifische körperliche Beschwerden (Muskelverspannungen, Rückenbeschwerden, Gehörschäden etc.), da sie stundenlang in unnatürlichen Körperhaltungen und bei höchster Konzentration verharren müssen.
Selbst eine Anstellung als Lehrkraft an einer ganz gewöhnlichen staatlichen Musik­schule ist heute aber sehr schwer zu finden. Zudem können an einer Musikschule oft nur wenige Stunden unterrichtet werden; ein weiter Anfahrtsweg ist aber trotzdem in Kauf zu nehmen.
Sicher ist bei all diesen pro­blematischen Aspekten die Liebe zur Musik für Berufsmusiker ein tragendes Element, das viele, jedoch nicht alle schwierigen Umstände ausgleichen kann.
Für mich persönlich ist heute die Hauptsache, mich künstlerisch betätigen zu können, sei es durch Schreiben, Malen, Hand­arbeiten etc. Beim Mu­si­zieren habe ich nämlich noch nicht den Weg gefunden von der Berufsmusikerin mit professionellem Anspruch zur entspannten Hobbymusikerin.